„Das Glück ist in allen und in keinen wie das Unglück“. – Bewertungen und was sie mit uns machen
Liebe Leser, da habe ich mir etwas vorgenommen. Thomas Bernhard hat in seinem ganzen Künstler- Leben stark polarisiert – man fand ihn und seine Arbeiten entweder gut oder hat ihn (heftig) abgelehnt. Im obigen Zitat finde ich gerade eine Freiheit von Bewertung. Daher mache ich mich auf, den Focus darauf zu lenken, was Bewertungen/Polarisierung mit uns im Negativen machen.
Mal ehrlich: wie häufig, haben Sie in den letzten 24 Stunden die Aussage „das ist gut“ bzw. „das ist schlecht“ getroffen, bzw. gedacht?
Diese Äußerungen gehen mal eben schnell über die Lippen, ohne sich dessen gewahr zu sein, dass wir hier bewertend kommunizieren.
Das Abgeben einer Bewertung ist ein Werturteil! Und von einem Urteil ist eine Verurteilung oft nicht weit weg.
Auf der Sachebene können wir – nur – nach einer intensiven Befassung mit der Materie, welche uns zu einem Sachkundigen macht, auf Basis der Faktenlage ein wohl abgewogenes Urteil fällen.
Auf der persönlichen Ebene gehen mit den Bewertungen sehr schnell Anmaßungen und im psychologischen Sinne Übergriffe einher. Hier nehme ich oftmals eine (erschreckende) Distanzlosigkeit wahr. Und dabei rede ich noch nicht einmal von einer im pathologischen Sinne diagnostizierten Distanzlosigkeit.
Was geschieht also im Modus der Bewertung, welche Folgen hat diese Interaktion auf das soziale Umfeld?
Bewertung schafft definitiv Abgrenzung, Hierarchie und eine Erhöhung der eigenen Person. Gerade die hinter diesem Streben nach eigener Erhöhung liegende Motivation möchte ich gerne näher betrachten. Bedarf es für jemanden, der sich seiner eigenen Stärken und Kompetenzen gewiss ist, dieser Abgrenzung – ich verneine dies uneingeschränkt. Wer reflektiert agiert, muss andere nicht abwerten, um sich selbst als souverän wahrzunehmen. Der Souveräne benötigt keine Rechtfertigung, „er ist“.
D.h. wir sind aufgerufen zu beobachten, ohne zu bewerten – der indische Philosoph J. Krishnamurti bezeichnete diese Fähigkeit als höchste Form der menschlichen Intelligenz.
Eine vorschnelle Bewertung und Analyse
- verhindert vorurteilsfreie Begegnungen
- schafft ein Klima von Verunsicherung „was kommt jetzt wieder“
- ist ein Innovations-Hemmer
- steht der Implementierung einer Fehlerkultur entgegen
- verhindert ein Denken in Optionen
- festigt patriarchale Strukturen, die z.B. dazu führen, dass Mitarbeiter sich abkehren bzw. nicht mehr gewonnen werden können
- versperrt durch Ausgrenzung den Zugang zu dem Gefühl, Teil eines „großen Ganzen“ zu sein
- schwächt den Einzelnen in seiner Potentialentwicklung
- verhindert bei Kindern und jungen Erwachsenen eine gesunde Entwicklung der Resilienz.
Und es gibt bei dem „gut“ bzw. schlecht“ noch ein andere Ebene: Diese Äußerungen sind sehr unbestimmt, das heißt, ich mache es meinem Umfeld nicht einfach herauszufinden, wie ich mich wirklich fühle. Und damit mache ich es meinen Zuhörern schwer, tatsächlich in Kontakt mit mir zu treten.
Oft ist es so, dass das Bewertungssystem nahezu reflexhaft reagiert. Sind wir doch aufgewachsen und leben in sozialen Kontexten, die dieses Verhalten relativ wenig in Frage stellen. Ich staune immer wieder, wer sich berufen fühlt, „zu wissen, was richtig ist“.
Was heißt dies, wie können wir hier zu einem Change kommen, ist die neuerdings vielseitig benannte Achtsamkeit ein Weg? Ich meine eindeutig ja, wenn dies als ein innerer Prozess gesehen wird, der auf einer klaren individuellen Entscheidung zur Selbstentwicklung basiert. Dann – und nur dann – kann und wird dies gelingen!
Der Entscheidungsprozess hin zur Veränderung ist immer ein individueller, z.B. im Einzelcoaching.
Allen verordneten Maßnahmen im Sinne einer standardisierten Führungskräfteentwicklung erteile ich aus meiner Erfahrung eine Absage, in einem solchen Prozess kann maximal die Aufmerksamkeit geschult werden. Aber: Die Aufmerksamkeit kann ein erster Schritt hin zur Achtsamkeit sein.
Hier kommt noch eine interessante Frage ins Spiel: Wie weit darf eine von der Chefetage „verordnete Änderung“ gehen, sprich wie weit greift sie/darf sie normierend auf den individuellen Führungsstil Ihrer Mitarbeiter einwirken!?
It’s simple but (sometimes) not easy – herzlich Ihre
Christa G. Kober